Zum Hauptinhalt springen Zur Suche springen Zur Hauptnavigation springen

22.07.25

DIE ALTE DAME IN NEONORANGE

DIE ALTE DAME IN NEONORANGE


Eine Geschichte über Obacht und Würdigung im Alltag

Seit Monaten verzichte ich auf Bus & Bahn und gehe. Ich laufe überall hin. Heute: in die Stadt, was essen gehen zur Mittagspause. Gekleidet mit einem neon-orangen Shirt und ebenso kolorierter Laufschuhe. Eine Farbkombi, die mehr als ins Auge sticht. Kurz vor elf passiere ich die Max-Passage. Links davor sitzt sie:



eine ältere Dame, ausgezehrt, aber gepflegt. Weißes, schütteres Haar, akkurat zum Dutt gezwirbelt. Saubere Bluse, leichte Weste und einen langen Lodenrock. Blaue Socken, am Zeh mehrfach gestopft. Die Schuhe fein sauber neben sich gestellt, weil „die Beine so dick werden“. Vom vielen Sitzen. Vom endlos langen Ausharren. Nach Almosen. Nach Kleingeld, das scheppert in ihrem Becher, den sie zwischen den Beinen hält. Darüber ein Pappschild:

Bin in Not: bin zu alt.

Kurzerhand entscheide ich mich um. Trage den Zehner nicht ins Café, sondern in ihren Becher. Setze mich neben sie und komme ins Gespräch. 78, ein Leben lang gearbeitet, immer dafür gesorgt, dass es allen gutgeht in der Familie. Jetzt aber ist sie allein. Sie ist der Rest der Familie. Das Amt bezuschusst die Miete, aber für eine warme Küche reicht es nicht mehr. So sitzt sie hier. In der 1a Lage der Stadt. Und während sie und ich reden, folgt ein weiterer Schein und richtig Kleingeld in den Becher. Sie lächelt und sagt: „Ihr T-Shirt bringt mir Glück. Es macht auf uns aufmerksam. Es leuchtet so.“ Nun verabschiede ich mich, lächelnd.

Ich gehe hundert Meter, drehe mich noch einmal um - und es ist alles beim Alten: Menschen stehen direkt neben meiner alten Lady, und würdigen sie keines Blickes.

Wie eine Gesellschaft mit den Schwächsten umgeht, so ist ihr Zustand: wir sperren Behinderte weg und würdigen alte Menschen keines Blickes. Menschen am Rande unserer Gesellschaft brauchen neonrange. BRICHBAG muss neonorange werden. Und wurde es.